Mittwoch, 6. Dezember 2006
Bittere Pillen
Früher, als ich so 5-6 Jahre alt war, bat ich ihn öfters, mir seine Geschichten aus dem Krieg erzählen. Ich wollte wissen, wie es war zu der Zeit ein kleiner Junge gewesen zu sein. Ich bekam aber immer Politik- oder Geschichtsvorträge zu hören und verlor sehr schnell das Interesse.
Gestern bot ich ihm Obdach, während meine Mutter zu einem Kaffeeklatsch geladen hatte. Er hatte keine Lust Hahn im Korb zu sein. Also lockte ich ihn mit Selbstgebackenen, er schwang sich auf sein Fahrrad und kam mit flatterndem, grauen Haar in Windeseile geradelt.
Und dann kamen sie, die kleinen Anekdoten und teils hammerharten Geschichten aus der Kriegszeit. Er erzählte, wie sein Vater, niedergelassener Internist, der sich weigerte in die Partei einzutreten, einmal inhaftiert wurde, weil er eine akut kranke Jüdin einem HJ-Kommandanten vorgezogen hatte. 3 Tage lang war eine ständig bombengefährdete Region der Stadt mit tausenden Anwohnern ohne Arzt. Ein Kollege, selbst Mitglied der NSDAP, holte ihn wieder raus dem Gefängnis, in dem mein Großvater nur das sprichwörtliche Wasser und Brot bekommen hatte und beschimpfte die Polizei. Der HJ-Kommandant erschien am nächsten Tag in der Praxis meines Großvaters und drohte ihm: "Nach dem Krieg rechnen wir ab - dann werden Sie nicht mehr gebraucht." Aber mein Großvater nahm es gelassen. Es war ja schon sein 2. Krieg und er wusste, dass es zu dieser Abrechnung nie kommen würde.

Später wurde mein Vater in das vom Krieg verschonte Freiburg zu einer Tante geschickt. Dort kannte man keine Bomenangriffe und keinen Unterrichtsausfall. Seine neuen Mitschüler wussten und konnten viel mehr, lauschten aber gespannt seinen Geschichten aus der Großstadt.
In Freiburg war man aber viel strenger bei der HJ. Man fand es nicht witzig, dass er die Lieder auf Düsseldorfer Platt sang und ließ ihn zur Strafe einen Berg auf Knien hoch und wieder runter krabbeln.
Das sollte fortan öfter vorkommen. Erstens sang er die HJ-Lieder weiter im heimischen Dialekt, zweitens ging er sonntags um 10:00 lieber in den Gottesdienst, als zu den Gruppentreffen. Orgelklänge freuten ihn mehr als Marschgesänge. Er feierte seine eigene Revolution und viele taten es ihm gleich und krabbelten am nächsten Mittwoch mit ihm den Berg hoch und runter. Aber keiner so oft wie mein Vater. Aus dem Grund war er dennoch priviligiert! Denn seine Uniformhosen waren dadurch immer so schnell zerschlissen, dass man ihm erlaubte Lederhosen zu tragen. Mein Vater grinste sich einen und krabbelte dafür umso lieber.
Freiburg hatte noch einen Vorteil. Dort lebte eine Sportlehrerin, die vor dem Krieg bei den letzten olympischen Winterspielen mitgemacht hatte. Durch sie lernte er Techniken, die nie ein Düsseldorfer je auf Ski vermittelt bekam.

Mit Lachfältchen in den Augenwinkeln erzählte er noch einige Geschichten und von manch bitterer Pille und erklärte mir im nächsten Satz mit einem Seufzen in der Stimme: "Je älter man wird, desto eher lebt man in der Vergangenheit, weil man die Gegenwart nicht mehr versteht."

Nicht, das ich die Vergangenheit je verstehen werde.

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Freitag, 18. August 2006
Damals
Zähne sind ein sehr aktuelles Thema. So kamen mein Vater und ich gestern auf seine Schneidezähne zu sprechen. Immerhin besitzt er mit seinen über 70 Jahren noch alle seine Zähne - abgesehen von seinen oberen vier Schneidezähnen.

Mit vielen aktivierten Lachfältchen rund um seine Augen erzählte er von einer Kundgebung, die er in seiner Studienzeit mit einigen Komolitonen besuchte. Die Herren amüsierten sich prächtig, buhten dazwischen und nannten alles einen kommunistischen Quatsch. Plötzlich wurde er von hinten gegriffen und eine Faust sauste in sein Gesicht. Lachend schloss er die Geschichte ab: "Ja, und dann hatte mein Freund, der angehende Zahnarzt, ein neues Übungsobjekt!"

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