Freitag, 6. Februar 2009
Lullaby
Heute habe ich meinem Vater seine neuen CDs mitgebracht. Als ich kam, lag er natürlich im Bett und schlief. Das Problem ist, dass sein Pflegestuhl (so ein Multifunktions-Rollstuhlteil) noch immer nicht da ist, so dass man ihn nicht mobilisieren kann... Mobilisieren heißt übrigens, dass man ihn in diesem Rollstuhl setzt und zu den anderen Bewohnern stellt. Dort ist wenigstens etwas mehr los, als in seinem stillen Kämmerlein. Jedenfalls ist er jetzt seit drei Tagen nahezu ausschließlich im Bett, was keinem gut tun kann.
Er schlief also und wurde, wie üblich, auch nur langsam wach. Er lag auf der Seite und blinzelte mich an. Ich fragte, ob ich ihm Musik anmachen soll und er nickte leicht. Ich nahm erst mal die Heinz Rühmann-CD und gleich gingen seine Augen weiter auf. Er lauschte den Texten, die er noch nicht oder nichtmehr so gut kannte sehr aufmerksam und bei dem mit dem Regenwurm runzelte er die Stirn und lachte amüsiert. Bei Lalelu sang er laut mit und gestikulierte passend zum Text. Er suchte seine Schuhe und deutete darauf mit verschlafenen Augen.
Später legte ich Doris Day auf und er bekam einen verträumten Blick. Beim dritten Lied fragte er mich vermitzt, ob er denn für diese tolle Frau gepflegt genug aussähe. Ich sollte ihm die Haare kämmen.
Langsam fuhr er zu sowas wie Hochform auf. Bei "Que Sera Sera" saß er aufrecht sitzend, singend und schunkelnd im Bett. Aus war es mit der Frisur. Aber das war nicht wichtig.
Kurz drauf aß er wieder mit großem Appetit sein Abendessen und noch jede Menge Süßkram hinterher.
Dean Martin folgte auf Doris Day. Doch Schwester Annette kam, um ihn für die Nacht fertig zu machen. Bemerkenswert fand ich, dass ich nicht aus dem Raum geschickt wurde. Ich sah, wie mager mein Vater geworden war. Die Schwester sagte, er bekäme ab morgen mindestens einmal am Tag so ein Bodybuilder-Aufbaugetränk, damit er etwas zunähme. Ich bin gespannt, ob es etwas bringt. Mein Vater kann sein Jahren fressen wie ein Scheunendrescher und nimmt nicht zu.
Als mein Vater fertig war, legte die Schwester ihn diesmal auf die andere Seite und er kuschelte sich zufrieden in seine Decke und schloss schon mal - weiterhin zufrieden summend - seine Augen. Schwester Annette sagte ihm gute Nacht. Er nahm meine Hand "Bleibst Du noch etwas?" "Ja" sagte ich. "Dann kannst Du mich noch etwas streicheln...?" "Ja, ich streichel Dich, wenn Du das magst." "Ja, hinten" sagte er und deutete auf seinen Rücken.
Dean Martin sang gerade irgendetwas ruhiges und mein Vater schien völlig entspannt. "Heute Nacht wird alles gut." sagt er. Dann lächelte er. "Aber vorsicht! Ich schnarche!"... "Soll ich Dir die Musik anlassen, wenn ich gleich gehe?" "Kann man die Musik noch verlängern?" "Ja, ich mache Dir die CD von vorne an, ja?" "Ja, das ist gut."

Schlaf gut, Papi. Ich liebe dich.

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Spontan geheult. Ich sollte so etwas Rührendes nicht so früh am Tag lesen.

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Allerdings. Frau Diagonale, ich mag Sie sehr.

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Oh je... jetzt ist es mit meiner eigenen Fassung auch erst mal vorbei.

Danke.

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Ich hoffe, ich werde es eines Tages auch mal so gut haben wie Ihr Vater, Madame.

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Hoffen Sie das lieber nicht. Der Krankheitsverlauf einer Demenz ist nicht immer so kuschelig.

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Ja, sicher. Aber wenn, dann bitte so. Ich habe mal in einem Jugendprojekt eine Gruppe Teenies in ein Altenheim begleitet. Die Kids schoben die Bewohner in ihren Rollstühlen in die Sonne heraus und machten einen Massenspaziergang von gut und gerne zwei Stunden. Raum für genügend Gespräche auf dem Schotterweg durch den Wald. Was da Schicksalen offenbart wird ist unglaublich. Wir mussten am Abend den Jugendlichen erst mal die Hand halten und erklären, warum manche Menschen ihre Eltern 400 km weit weg ins Altenheim stecken, wo doch zwei Straßenbahnhaltestellen weiter …

Wie gesagt, wenn schon auf Hilfe angwiesen, dann so wie Ihr Vater es gerade erlebt. Mit Rückenstreicheln und meiner Musik …

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Danke.

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Mann sollte Deine Texte nicht lesen, wenn man im Büro sitzt.
Ich musste eben einem ziemlich erstaunt dreinblickendem Mitarbeiter meine geröteten Augen und das zerknüllte Papiertaschentuch erklären…

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Jetzt hastes ja hinter Dir. Ich glaube, das ist der "schlimmste" bislang. ;o)

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"Schlimm" ist anders - er hat mich halt direkt ins Gefühlszentrum getroffen und einige Gedankenprozesse in Gang gesetzt…

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Dann habe ich genau das erreicht, was ich mit meinen Einträgen über meinen Vater zu erreichen hoffe.

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recording time: 6889 Tage
last track: 2014/01/25 19:09
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