Samstag, 9. September 2006
... aus der Not eine Tugend ...
Meine Tochter frug sich die letzten Monate immer wieder, was sie wohl mal werden will. Gleichzeitig tendiert ihre Kleiderwahl immer eher Richtung Gothic, aber das was sie haben will, ist entweder höllenteuer (Wortspiel haha!) oder nicht zu bekommen.
Gestern auf einer Party unterhielten G. und ich uns mit einer Frau, die sehr aussergewöhnliche Klamotten an hatte, die einem starken Einfluss der Jahrhundertwende unterworfen waren. Es sah unglaublich aus und ich fragte, woher sie die denn habe! Sie nähe das selbst, antwortete sie mir. Sie habe schon mit 12 angefangen, sich für Kleider aus dieser Zeit zu interessieren und angefangen diese nachzunähen.
Dadurch angetriggert recherierte mein Kind eben im Netz und fand diese Seite. Nun ist der Wunschzettel für den Geburtstag geändert worden. Eine Nähmaschine muss her. Und Stoffe. Schwarz. Und den Berufswunsch gibt's gleich dazu: Modedesign. Am liebsten so wie Vivienne Westwood

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oh mein gott. arme diagonale. zu einigen mädels von natron und soda möchte ich mich jetzt spontan nicht äußern müssen. *räusper*
gothicartiges gibt´s übrigens mittlerweile auch schon bei c&a, es muss also nicht alles teuer sein. es ist mittlerweile einfach ein trend, überall auf der straße begegnet man ihm. zu meiner zeit sagte man diesen - damals vereinzelt auftretenden seltsamen menschen - noch per bildzeitungsartikel satanismus nach ("passen sie auf, wenn ihr kind zuviel schwarz trägt!!")
sagen sie ihrer tochter, wenn sie originell sein will, soll sie ihr gestalterisches talent lieber auf innere werte und gedankeninhalte verlegen. sollte sie dennoch auf kinderfasching bestehen (was ich ihr altergemäß nicht mal verübeln würde), kann sie gerne meine ausrangierten klamotten übernehmen (alles underground-labels und cin-a-matik-zeug, das höllenteuere eben). ;)
zum trost: das legt sich so mit 18, 19 oft wieder. dann ist es einem nämlich peinlich. ;)

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Frau Morphine,
lassen Sie einen alten Mann nicht unwissend sterben: Was hat es mit "Mädels von Natron und Soda" auf sich - ist das eine Paraphrase von Sodom und Gomorrha?

Den Rat mit der Pflege der inneren Werte (so richtig er sein mag) werden die wenigsten Mädchen in diesem Alter hören wollen. In einer Lebensphase, in der es darum geht, Identitätsentwürfe zu erproben, auszutesten, in welcher Kostümierung man wie wirkt auf die Außenwelt wird das doch als ziemlich antiquiert und unpassend wahrgenommen werden (was einen ja nicht abhalten muss, den Rat trotzdem zu geben).

Mein Neffe von mittlerweile 19 Jahren, der das ganze dunkle Styling-Thema zwischenzeitlich etwas weiter getrieben hat - bis hin zu den umgedrehten Kreuzen und so - ist da inzwischen auch wieder runtergekommen in Richtung Normalität...

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Richtig. Die Bildung innerer Werte ist derzeit total indiskutabel. Im Grunde weiß sie das, aber sie will das gerade glaube ich unbedingt ausprobieren. So schlimm finde ich das aber nicht. Ich bin ja auch keine Otto-Normal-Mama. Da muss sie ja auch durch.

@ Morphin: Meinen Sie das wirklich ernst mit den ausrangierten Teilen?

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ich kenne ein paar von den n&s-mädels... das ist die fraktion tussis, die bei uns stundenlang auf dem klo stehen, sich gegenseitig die corsagen festzurren und einander beraten, wie man sich am besten die strümpfe zerfetzt. das sind diejenigen, die zum sehen-und-gesehen-werden auf parties gehen, aber den musikalischen horizont noch nicht weiter als bis christina aguiliera gesteckt haben. ;) okay, es gibt auch ausnahmen. ich kenne aber nur ein-zwei davon.

das mit den ausrangierten teilen meine ich durchaus ernst, aber dazu müsste ich wissen, welche größe die "kleine" hat.
ich hätte ein langes, geschlitztes samtkleid (onesize, das ich keine fünf mal trug, das hat mal 320 dm gekostet, sie sehen also, welche tendenz trends haben), dann eine samtbluse mit schnürung, bordeaux-farbenen stickereien, schößchen und hexenärmeln (s/m), so ein spitzenjäckchen... hm, das fällt mir jetzt spontan ein. einen mantel hab ich noch im pagenstil, aber den möchte ich noch ein wenig behalten.

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In welche Richtung mein Tochter endgültig irgendwann tendieren wird, ist jetzt natürlich nicht absehbar. Jedenfalls weiß ich schon jetzt, dass weder Christina Aguilliera noch Toki* H*tel zu Ihren favorisierten Interpreten gehören. Mehr so "System of a Down", "Evanescence" oder "Billy Talent". Die letzten beiden kann ich selbst sogar noch halbwegs gut hören. Soad kann ich aber nicht ertragen. Aber genau darum geht es ja: Abgrenzen und abnabeln.
Ob sie irgendwann zu den "echten" Gothics mit Herz und Köpfen gehören wird, kann man noch nicht sagen, aber ich schätze sie durchaus so ein.
Dennoch gehören auch die Klamotten für sie dazu, sich zugehörig zu zeigen - ein Phänomen dieser Altersgruppe.

Wegen Ihrer Klamotten: Wir sollten mailen. Schreiben Sie mir? diagonale aet arcor punkt de

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Erstmal herzlichen Glückwunsch zur wohlgeratenen Tochter, Frau Diagonale! Und gleichzeitig möchte ich noch eine Lanze brechen für die Macherinnen von Natron&Soda. Die sind nämlich cool, plietsch und sehr nett. Und irgendwo im Forum haben die auch einen ebenfalls netten Link auf mei.. na, egal.

C&A geht gar nicht, egal wie man es dreht. Selber nähen finde ich die richtige Antwort. Schnitte und Anregungen gibt es im Netz genug. Ich hätte noch eine aufstrebende junge Kostümdesignerin an der Hand, die just solche Sachen macht. Das wäre dann aber wieder nicht günstig. Einen guten Tätowierer kenne ich auch...

Zuguterletzt: Als Gothic unpeinlich altern ist wahrscheinlich auch nicht schwieriger, denn als Skater-Punk. Meine Cousine und meine beiden Neffen haben es auch geschafft. Im übrigen finde ich es allemal besser, (junge) Leute probieren was aus statt brav im Mainstream mitzuschwimmen.

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Was is'n "plietsch"?

Danke, ich bin auch weitestgehend zufrieden. Ganz zufrieden darf ich als Mama gar nicht sein. Das würde sonst zum Müßiggang motivieren. Das geht ja nicht.

Danke auch für das Kostümdesignerinnen-Angebot. Schön ist aber, das wir selbst in der Familie eine begabte Schneiderin haben. Ich hoffe aber eher, dass diese J. zeigt, wie man sich Sachen schneidern oder umarbeiten kann. Sogar G. kann das so richtig gut (hat sich in seiner Jugend z.B. mal einen OP-Kittel zurechtgenäht und im Alltag getragen.) Ich glaube, mein Kind wird erst mal genug Anregungen und -leitungen bekommen, bevor wir individuelle Fertigware erwerben müssen.

Ich habe nie was ausprobiert. Ich war davon aber auch mehr als abgestoßen, weil sich jemand in meiner näheren Umgebung beim Ausprobieren richtig mächtig auf die Schnauze legte. Das wollte ich nicht auch. Daher kenne ich das selbst nicht.
Im Grunde habe ich nichts dagegen. Jedoch mache ich mir Gedanken, wenn ich an die Berührungen mit der "echten" Szene denke. Ich glaube nicht, dass eine 12jährige da schon gut aufgehoben ist.

P.S. @ Mr. Kid: Wen Sie wieder alles in der Familie haben, ist schon erstaunlich.

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Ich weiß nicht, woran Sie bei "Szene" denken. Die, die ich kenne, ist recht familienfreundlich. ;-)

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was ich meinte: die szene ist an sich nicht schlecht. es gibt kaum pöbeleien, prügeleien und die leute sind halbwegs helle und besaufen sich nicht. die meisten sind recht zurückhaltend und man erlebt zumindest hier im stoffeligen frankenland selten annäherungsversuche der interensiveren art. das unterscheidet sie zumindest in der disco von anderen "szenen".
aber es ist eine "szene" und trägt meines erachtens wenig bis gar nichts zum individualisierungsprozess bei. gothic ist ein trend. in jedem klamottenladen gibt´s irgendwelche accessoires mittlerweile. klar, man kann sagen, das ist ja nicht wirklich gothic, c&a und h&m sind nur billiger abklatsch im motor des zeitgeists. klar kann man sagen, man kann auch "echt" sein (oder "true", wenn man metaller ist *g*).
ich habe selten viel genäht, v.a. eben umgenäht, weil ich mir die teueren tollen sachen selten leisten konnte. gegen das nähen und das sich gegenseitig inspirieren ist auch nichts einzuwenden, halte ich auch für positiv. ich mag nur dieses obszessive versinken in äußerlichkeiten nicht - das ist eher persönlichkeitsbildung rückwärts. wenn ich mit 18,19,20 immer noch nichts im hirn habe außer klamotten und schminken, ist das ziemlich erbärmlich. ich style mich immer noch gerne, hin und wieder. aber ich brauche es nicht. das ist der punkt. alles andere ist viel, viel wichtiger: die musik, die freundschaft, ein gespräch...

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Gothic ist keine Mode ;-). Ich jedenfalls kenne wenige Leute, die gestern im Shakira Ethno-Fummel und heute in Schwarz rumlaufen, obwohl es die sicher gibt. Ich finde, daß dahinter schon eine Weltsicht steckt, ein anderer Blickwinkel. Das aber läßt genügend Raum für Individualität und hat auch nichts damit zu tun, daß die Leute "nichts im Hirn" haben als Schminken und Styling. Das ist mir eine zu starke Reduktion auf die auffälligen Äußerlichkeiten.

Goth zu sein bedeutet immer noch eine starke Abgrenzung zum Mainstream hin - mit positiven wie negativen Folgen. (Kaum was wird so verlacht zum Beispiel), mit kaum einer Farbe eckt man so an wie mit Schwarz.) Das halte ich für keinen schlechten Weg, sich seiner selbst bewußt zu werden. Und: sich für Gothic zu interessieren bedeutet ebenfalls nicht, sich automatisch von einer "Szene" vereinnahmen zu lassen. Ich denke, daß es eher die Mitläufer sind, denen es mit 18, 19 "peinlich" ist wie Sie oben schreiben. Die Poser.

Am allerwenigsten glaube ich daran, daß man automatisch individueller und charakterstärker wird, vermeidet man jugendliche Orientierungs- und Modessünden. Stilvolle Kleidung und innere Werte schließen sich ja nicht aus. Frau Morphin, sind Sie gerade in einem Abgrenzungsprozeß? ;-)

@Frau Diagonale: Es gibt eine gute Biografie über Vivienne Westwood von Jane Mulvagh, Die Lady ist ein Punk. Vielleicht auch ein schönes Weihnachtsgeschenk.

Und nun muß ich wieder ein paar Kreuze umdrehen gehen.

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Danke für diese Diskussion und die Einblicke in diese "Szene". Ich selbst kenne das nur von aussen und von ein paar Erzählungen. Je mehr ich darüber höre desto mehr oder weniger weiß ich, ob ich mir Sorgen machen muss oder eben nicht. Bis jetzt sehe ich das aber noch ganz lässig und unterstütze sie fast darin.

Im Augenblick habe ich nicht den Anspruch, sie davon zu überzeugen, dass die Klamotten total unichtig sind. Auch die Gestaltung des Äusseren kan ich gutes Hobby sein. Der Kopfinhalt muss dabei nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. (Eine gute Freundin ist Chefdesignerin von "Jette". Sie ist der liebste, schlauste und einer der philosophischsten Menschen, die ich kenne. Sie macht einen guten Job in einem Modebereich, der ihr eigentlich nicht gefällt. Aber sie ist stilsicher - darauf kommt es an.)
Würde ich sie jetzt schon dazu drängen, zu einem "intensiven" menschen zu werden, könnte ich sie völlig überfordern. Abgesehen davon, war sie bislang nie ein Tussen-Kind und trug, was ihr eher praktisch erschien. Sie müssten schon eine 180° Kehrtwende machen, um zu einer oberflächlichen Goth-Tussi zu werden. Ich halte das also für sehr unwahrscheinlich.

@ Mr. Kid: Vielen Dank für den Buchtipp! In der Tat ein schönes Geschenk. Und ich weiß gleich zwei Adressaten dafür. :o)

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recording time: 6919 Tage
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